"Ich verstehe dich" reicht nicht
- Sarah S.
- 17. Apr.
- 5 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 18. Apr.
Ich dachte lange Zeit, ich sei ein extrem verständnisvoller Mensch.
Meine Coachin sagt mir regelmäßig: "Sarah, du hast so viel Verständnis für andere Menschen und für andere Perspektiven - manchmal sogar zu viel." Eine wunderbare Gabe – die mir manchmal jedoch im Weg steht. Weil ich dadurch manchmal zu viel Verhalten entschuldige und ich meine eigenen Bedürfnisse dann ggf. nicht voll anerkenne und vertrete.
Dieses Selbstbild wurde kürzlich auf die Probe gestellt, als meine Partnerperson mir mitteilte, dass they jemand Neues daten will. Als Teil einer polyamoren Beziehung hatte ich den Anspruch an mich, möglichst entspannt damit umgehen zu können und das gut gönnen zu können. Ich wollte kein Drama produzieren und die Begegnungen mit neuen Menschen für meine Partnerperson zur Belastung machen.
Doch die Realität sah anders aus: Ich spürte Verunsicherung, Angst und etwas, das ich selten fühle: Scham.
Ich schämte mich, weil ich noch nicht so reagieren konnte, wie ich das schön finden würde und vor allem, wie ich es von meiner Partnerperson mir gegenüber kenne. Ich wusste außerdem, dass die andere Partnerperson meines Herzmenschen damit "viel besser" umgehen kann und entspannt reagiert (die beiden kennen sich schon deutlich länger und haben schon deutlich mehr Erfahrung damit, wenn Herzmenschen andere Menschen daten).
Ich fühlte mich unter Druck. Ich wollte das unbedingt (auch) gut machen. Aber unter Druck arbeiten die wenigsten Menschen wirklich gut ;-)
Also hab ich das auf die Matte gebracht. Ich hab reingespürt, hab bewegt, was sich in mir bewegte - was ich fühlte und dachte.
Und ich konnte endlich anerkennen: Es ist das erste Mal für mich, dass meine Partnerperson jemand Neues datet... Es ist okay, dass mich das herausfordert und ggf. auch überfordert. Ich lerne noch. Wir beide lernen noch.
Und "oh Wunder" - als ich meine Gefühle akzeptierte, wurden sie weniger intensiv.
Ich konnte mehr Frieden schließen mit dem, wo ich gerade stand. Der Druck wurde weniger.
Aber eine wirklich unbequeme Erkenntnis wartete noch auf mich.
Ich war zwar mit mir selbst im Frieden und bemühte mich, es jetzt besser zu machen als vorher, aber im Umgang mit meiner Partnerperson bemerkte ich Groll von their Seite und dass mir bestimmte Dinge subtil noch nachgetragen wurden.
Das irritierte mich.
In meiner Welt hatte ich mich für die ersten Reaktionen, auf die ich nicht so stolz war, aufrichtig entschuldigt. Ich hatte erklärt, was in mir los war. Und ich hatte viel reflektiert, was ich künftig anders machen möchte und wie ich das umsetzen könnte. Ich hatte das mit meiner Partnerperson geteilt. Und ich hatte auch schon besser reagiert.
Warum war also noch Groll noch da?
Die Antwort fand ich nach tiefer, kritischer Selbstreflexion:
Es gibt einen entscheidenden Unterschied zwischen Zuhören und Verstehen einerseits und echtem Anteilnehmen und Reflektieren andererseits.
Ich erkannte mein Muster: Ich hörte aufmerksam zu und gab mir viel Mühe, mein Gegenüber zu verstehen, und das auch zu zeigen.
Ich sagte dann zum Beispiel: "Danke, dass du das mit mir teilst. Ich hör dich total und kann gut verstehen, was du beschreibst. Ich kann gut voll nachvollziehen, dass sich das scheiße angefühlt hat".
Und dann erklärte ich direkt meine eigene Perspektive. "Weißt du, bei mir kam das so und so an in dem Moment. Ich hab das und das gefühlt und gedacht. Und ich versteh auch voll, warum ich in dem Moment nicht anders reagieren konnte, nämlich weil..."
Was ich nicht tat: erst mal einfach nur zuhören. Ohne mich direkt zu rechtfertigen. Ohne direkt meine Perspektive anzubieten. Ohne zu erklären, warum ich so gehandelt hatte.
Sondern stattdessen wirklich nachzufühlen, was mein Verhalten bei der anderen Person ausgelöst hat. Und das ist unbequem! Es bedeutet anzuerkennen: "Fuck, das hat bei einer anderen Person ein richtig unangenehmes Gefühl gemacht. Ich hab was (noch) nicht gut gemacht."
Mein Impuls, in die Erklärung zu gehen und eine andere Perspektive anzubieten, sorgt für Folgendes:
Ich muss nicht die unbequemen Emotionen meines Gegenübers "aushalten".
Ich erspare mir Scham- und Schuldgefühle - ich hab ja Verständnis für beide Seiten - supi.
Ich denke, ich bin lösungsorientiert und sorge dafür, dass der Konflikt gelöst wird.
Mein Gegenüber fühlt sich nicht wirklich gesehen, gehört und validiert. Und das kann zu Groll fühlen.
Not cool. Und löst nichts.
Was also tun, wenn eine Situation aufgetreten ist, wo beide das Gefühl haben, das Gegenüber hat nicht cool reagiert, oder wo beide sich nicht richtig gesehen gefühlt haben?
Eine:r muss den Anfang machen und:
Wirklich zuhören, was die andere Person erlebt hat.
Nachfühlen statt nur verstehen.
Verantwortung übernehmen für den eigenen Anteil und aufrichtig entschuldigen ohne Selbstgeißelung oder Ego-Nummer. ("Shit, das hab ich echt nicht gut gemacht. Das möchte ich anerkennen und ownen. Das tut mir leid." vs. "Oh mein Gott, ich bin so ein schlechter Mensch. Wie konnte ich nur?? Kannst du mir verzeihen?)
Reflexionszeit nehmen. (z.B. "Ich mag darüber ein bisschen nachdenken, um zu schauen, was ich dazu noch in mir erkennen darf und was ich künftig anders machen will.")
Konkrete Verhaltensänderungen anbieten.
Der letzte Schritt ist wichtig, denn Verantwortung zu übernehmen und sich zu entschuldigen ohne nachfolgende Verhaltensänderung ist schlichtweg Manipulation. Damit stelle ich mein Gegenüber nur ruhig, aber ich sorge nicht dafür, dass das nicht wieder auftritt.
Ebenso wichtig ist der Punkt davor: Eine gute Entschuldigung braucht Zeit und Selbstreflexion. Wir können nicht erwarten, dass sich jemand sofort perfekt entschuldigt und alles erkennt und anerkennt. Menschen prozessieren unterschiedlich schnell – ich selbst bin ein sehr schnell prozessierender Mensch, was auch aus meinem Wunsch nach schneller Harmonie stammt. Aber nicht jeder Mensch funktioniert so.
Und nur damit das hier auch gesagt ist:
NATÜRLICH gehört zu einer guten Beziehung und Konfliktlösung, dass dein Gegenüber dir dann auch diesen Raum gibt. Nicht unbedingt sofort im selben Moment. Es kann total wichtig sein, sowas auch erst mal einen Moment sacken zu lassen.
Aber wenn du die einzige Person ist, die das anbietet, dann ist was nicht in Ordnung. So funktioniert gesunde Beziehung und Konfliktlösung nicht und führt über kurz oder lang zu sehr viel Groll.
Denn wir alle wollen uns gehört und gesehen fühlen in unserem Erleben.
Frage an dich:
Welcher Konfliktlösungstyp bist du? Kehrst du eher unter den Teppich? Willst du schnellstmöglich wieder in Verbindung und Harmonie kommen? Oder befindest du dich in diesem gesunden Mittelfeld – bereit, dem Konflikt Raum und Zeit zu geben, mit der Bereitschaft zur Selbstreflexion und Verantwortungsübernahme? Wenn du magst, schreib's mir in die Kommentare oder per Nachricht (@machs_mit auf Instagram oder an hello@machs-mit.com).
Ich freu mich immer über Nachrichten von dir und ehrlichen, verletzlichen Austausch!
Abschluss-Weisheit
Die wahre Stärke einer Beziehung liegt nicht darin, Konflikte zu vermeiden, sondern in der Fähigkeit zum "Repair" – dem Wiederherstellen der Verbindung nach einem Konflikt. Und das beginnt damit, den Unterschied zwischen oberflächlichem Verständnis und echter Empathie nicht nur zu verstehen, sondern zu leben.


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